Ein neues Bündnis mit der Universität

Eugen Brand

Translated by Eva Sommer Hoti, Sabrina Brunner and Sara Sabella

Translated from:
Une nouvelle alliance avec l’Université

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Eugen Brand, « Ein neues Bündnis mit der Universität », Revue Quart Monde [Online], 209 | 2009/1, Online since 01 September 2009, connection on 29 March 2024. URL : https://www.revue-quartmonde.org/8398

Zwei Ereignisse im Bereich der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Armutsbekämpfung – eine Zusammenarbeit, die es stets zu fördern gilt – haben den Jahreswechsel 2008/2009 geprägt. Zwei Ereignisse mit unterschiedlicher Wirkung, die beide für ein neues Bewusstsein stehen; es baut auf der Hoffnung auf, auch wenn ständig ein Gefühl von Unsicherheit und Beunruhigung mit dieser Hoffnung einhergeht.

Das erste Ereignis ist das Symposium zum Thema „Ausgrenzung als Bewährungsprobe der Demokratie. Wie aktuell ist Joseph Wresinskis politischer Denkansatz?“. Es fand vom 17. bis 19. Dezember 2008 in den Räumen von Sciences Po (Institut für politische Studien) in Paris und im Internationalen Zentrum Joseph Wresinski in Baillet-en-France statt. Über 400 Teilnehmende haben sich für dieses Symposium im Amphithéâtre Emile Boutmy von Sciences Po versammelt. Darunter fanden sich Forscher aller Altersgruppen, die die Bewegung ATD Vierte Welt und deren Bestrebungen entweder seit Jahrzehnten verfolgen oder erst kürzlich darauf aufmerksam geworden sind. Sie haben sich mit dem Denkansatz von Joseph Wresinski auseinandergesetzt und sind in Dialog getreten mit Akteuren der Armutsbekämpfung – zum Teil Mitglieder der Bewegung, zum Teil nicht – und mit Vertretern diverser politischer, kultureller und sozialer Institutionen. Der Wille der Bewegung, akademisches Wissen mit Handlungs- und Erfahrungswissen zu verflechten, war deutlich spürbar.

„Science et service“ war früher der Name der Bewegung ATD Vierte Welt. Heute haben sich Wissenschaft und aktive Armutsbekämpfung zusammengeschlossen, um im Rahmen eines Symposiums gemeinsam eine neue Sicht der Welt zu schaffen. Dieser Versuch ist zweifellos geglückt, aber es liegt nun an uns, den Mitgliedern der Bewegung und den Lesern der Zeitschrift von Quart Monde, dass diese Ideen auch umgesetzt werden. Dass dieses Bündnis auch in Zukunft, über das Symposium hinaus, bestehen bleibt und seine Aktualität bewahrt. Dass es Teil des Alltags, dass es zu einem ethischen Imperativ wird. Im Juni 1983 definierte der Gründer von ATD Vierte Welt, Joseph Wresinski, in seiner Ansprache an der Académie des Sciences morales et politiques (Akademie der Moralischen und Politischen Wissenschaften) die Grundsätze der Bewegung: „Es ist eine Angelegenheit, die sowohl die Wissenschaft als auch die Menschenrechte betrifft. Das grösste Wissen über eine Lebenssituation haben grundsätzlich diejenigen Menschen, die sie selbst erlebt haben. Wenn ihnen das Recht über dieses Wissen jedoch abgestritten wird, wie können sie dann zu dem Wissen beitragen, von dem sie leben und das sie am Leben hält? Und wenn der Beitrag dieser Menschen fehlt, was ist dieses Wissen dann wert? Wie sollen sie an den Nutzen oder gar die Wahrheit eines Wissens glauben, zu dem sie selbst nichts beitragen können und das ihnen oft das Gefühl gibt, dass sie weder Erfahrung noch eine eigene Meinung haben?“.

Das zweite Ereignis war die Einweihung des Lehrstuhls „Savoirs contre pauvrété“ (Wissenschaft der Armutsbekämpfung) im angesehenen Collège de France vom 8. Januar 2009. Diese Aufgabe wurde dieses Jahr der jungen und brillanten Wirtschaftsexpertin Esther Duflo anvertraut. In ihrer Antrittsvorlesung betonte Duflo, dass die Armut zwar nicht endgültig besiegt werden könne, es jedoch möglich sei, effektiver gegen die herrschenden Missstände vorzugehen, die die Armut verursacht. Dabei nehme das Wissen eine wichtige Rolle ein: Es solle uns helfen, Lösungen zu finden und deren Umsetzbarkeit zu evaluieren. Duflo fügt hinzu, dass „die Wissenschaft und die Armutsbekämpfung sich auf diese Weise gegenseitig unterstützen.“ „Science et service“ auch, um dem Elend ein Ende zu bereiten. Die Schaffung dieses Lehrstuhls ist ein bedeutendes Ereignis. Es holt die Armutsfrage heraus aus der engen Perspektive der sozialen Fragen und macht sie, unter der Schirmherrschaft des Collège de France, zu einer Angelegenheit der Gesellschaft. Dabei werden verschiedenste Disziplinen gestreift, vor allem die Wirtschaft und die Politwissenschaften. Aber auch dieser Versuch wird früher oder später weiterentwickelt werden müssen. Er wird sich unserer Meinung nach aber nicht wirklich verändern, wenn sich in der Wissenschaft der Armutsbekämpfung nicht ein Raum auftut für die Gesamtheit der Wissensbestände, die es ausmachen und aufgebaut haben: das akademische Wissen, das Erfahrungswissen, das Handlungswissen und die Lebenserfahrung. Der Titel des Lehrstuhls „Wissenschaft der Armutsbekämpfung“ scheint dies zumindest implizit aufzeigen zu wollen. Hätte man noch expliziter sein sollen? Vielleicht. Die Zukunft wird es zeigen.

Was uns angeht, so sind wir entschlossen, zusammen mit dem Internationalen Zentrum Joseph Wresinski, dem „Croisement des savoirs et des pratiques“ (Schnittpunkt von Wissen und Handeln) und dem Bündnis zwischen universitärer Welt und Akteuren der Armutsbekämpfung die Voraussetzungen für ein neues Bündnis zu schaffen. Es ist eine neue Etappe im Kampf für eine Welt, in der sich niemand mehr ausgeschlossen fühlt, weil er als unwürdig erachtet oder für unfähig gehalten wird, zu denken und einen persönlichen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen zu leisten, die die gesamte Menschheit betreffen. Mehr als je zuvor muss die Zeitschrift Quart Monde, in die wir neue Kräfte investieren wollen, in diesem Bündnis wegweisend sein. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, sie bekannt zu machen, sie zu verbreiten und ihr so zu immer grösserem Einfluss zu verhelfen.

Eugen Brand

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