Frau Dr. Haßdenteufel, in Ihrer Dissertation1 haben Sie die Entwicklung der Armutsdebatten in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit nach dem „Wirtschaftswunder“ untersucht. Was hat Sie an dieser Thematik interessiert?
Die gesellschaftliche Debatte um Armut und der politische Umgang mit diesem Phänomen interessiert mich generell sehr, weil diese Debatten gesellschaftliche Werte und Normen offenlegen können. Daran, wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, kann man ablesen, welchen Wert sie der gesellschaftlichen Teilhabe zumisst und wie sie diese verwirklichen will.
Darüber hinaus finde ich die Untersuchung der Armutsdebatte für meinen Untersuchungsgegenstand und -zeitraum besonders spannend. Denn sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik Deutschland entfachte sich in den 1970er und 1980er Jahren ein neues politisches Interesse für die Armutsfrage, die in den vorausgehenden Jahrzehnten kaum thematisiert worden war. Obwohl Armut auch in der Zeit des spektakulären wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden Ländern auf einem hohen Niveau gelegen hatte, ließen anscheinend die in dieser Zeit verbreiteten Deutungen der Zeit als „Wirtschaftswunder“ und „Trente glorieuses“ keinen Raum für die Diskussion materieller Mangellagen. Erst seit den 1970er Jahren brach das Schweigen um die Armutsfrage langsam auf. Man könnte jetzt vermuten, dass einfach ein Anstieg der Armut in Folge der Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre zu einem wachsenden Interesse für das Thema geführt hat, aber das greift zu kurz, denn die Armut stieg in dieser Zeit nicht signifikativ an, sondern stabilisierte sich eher auf dem Niveau der vorausgehenden Jahrzehnte. Ich wollte wissen, wie es zu diesem neuen politischen Interesse für ein im Grunde bekanntes und „altes“ Thema kam.
„Neue Armut, Exklusion, Prekarität“ – welche Realitäten verbinden sich mit diesen Begriffen und welche Rolle spielen sie bei der politischen Thematisierung der Armut in den beiden Ländern?
Die Diskussion einer „Neuen Armut“ ist im Grunde eine westeuropäische Debatte. Mit dem Begriff wird seit den 1970er Jahren in verschiedenen Ländern auf die Notlagen der Bevölkerung in reichen, westeuropäischen Industrieländern hingewiesen. Auch in Frankreich und der Bundesrepublik stand das Schlagwort der „Neuen Armut“ seit dem Beginn der 1980er Jahre im Fokus der Debatte. Ich habe herausgefunden, dass damit zuerst vor allem auf einen neuen Typus des Armen hingewiesen wurde, nämlich den des Mannes mittleren Alters und ohne Migrationshintergrund, der durch Arbeitslosigkeit von Armut bedroht war. Das steigende Armutsrisiko dieser Bevölkerungsgruppe ohne offensichtliche Handicaps ließ sich schwer mit dem bisher dominierenden Bild von Armut als Problem gesellschaftlicher Randgruppen vereinbaren, was zu neuer Aufmerksamkeit für die Armutsfrage führte. Nachdem Armut auf diese Art neues politisches Interesse erlangt hatte, wurden nach und nach aber auch andere Armutsrisiken aufgegriffen, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt standen, wie beispielsweise die Armut von Alleinerziehenden oder Kindern. Allerdings blieben die Notlagen der Arbeitslosen immer im Fokus.
Die Begriffe „Exklusion“ und „Prekarität“ dagegen erscheinen in meinem Untersuchungszeitraum nur in der französischen Debatte. Sie beziehen sich auf die gleichen Realitäten wie auch schon der Begriff der neuen Armut. Allerdings geben sie noch weitere Auskunft über das damit verbundene Armutsbild. Der Begriff der Prekarität, der in Frankreich von Anfang an eng verbunden mit dem Begriff der „Neuen Armut“ war, macht deutlich, dass Armut nicht mehr – wie vorher – als Frage der ungleichen Verteilung betrachtet wurde, sondern nun auch als Frage der Sicherheit. Der Exklusionsbegriff, der dann am Ende der 1980er Jahre die Debatte dominierte, zeigt, dass Armut immer mehr als Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesehen wurde. Nachdem Armut lange vor allem als Problem für die von ihr Betroffenen gesehen wurde, wurde mit dem Exklusionsbegriff auch die Frage gestellt, wie sich die Existenz von Armut auf die gesamte Gesellschaft auswirkte.
In Frankreich wurde Armut unter dem Stichwort „Exklusion“ als Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts thematisiert und die Debatte führte zu grundlegenden politischen Veränderungen. Welche Rolle spielt ATD Quart Monde in dieser Entwicklung?
ATD Quart Monde spielte dabei eine sehr große Rolle. Sicher kann man die Urheberschaft für den Begriff nicht einer einzigen Person oder Institution zuordnen, aber wenn ich für meine Forschung die Ursprünge dieses Begriffs verfolgt habe, bin ich immer wieder bei ATD Quart Monde gelandet. Die Wissenschaft hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff schon seit den 1960er Jahren vereinzelt in wissenschaftlichen Publikationen verwendet wurde, wie zum Beispiel bei Jules Klanfer. Aber auch bei ATD Quart Monde findet sich der Begriff in dieser Zeit schon; zum Beispiel erschien schon 1967 eine Ausgabe der Verbandszeitschrift unter dem Titel „Contre l’exclusion des pauvres“2.
In der politischen Debatte tauchte der Begriff dann wie gesagt erst später auf: in der Nationalversammlung sprachen die Abgeordneten erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von Armut als Exklusion. Meiner Ansicht nach kann man auch hier einen Bezug zu ATD Quart Monde herstellen. Denn der Verband, der in den 1970er Jahren immer häufiger den Exklusionsbegriff nutzte, hatte in dieser Zeit auch seine Kontakte zu Politik und öffentlicher Verwaltung immer stärker ausgebaut. Er pflegte Kontakte zu Staatssekretären, zu Parlamentariern und zum Conseil économique et social [Wirtschafts-und Sozialrat], in den Joseph Wresinski 1979 auch als Mitglied aufgenommen wurde. 1982 erteilte die Regierung schließlich auch den Auftrag für einen Armutsbericht direkt an Wresinski.3 Der Gründer von ATD Quart Monde lehnte den in dieser Zeit die Debatte dominierenden Begriff der „Neuen Armut“ ab – mit dem Verweis darauf, dass für die Betroffenen Armut keineswegs neu sei – und sprach in seinem Bericht stattdessen einfach von Armut und an manchen Stellen auch schon von „exclusion sociale“. Er unterschied sich damit natürlich nicht nur im Vokabular, sondern auch in der Ausdeutung von der dominierenden Ausdeutung von Armut in dieser Zeit. Während die „Neue Armut“ zunächst vor allem als physische Bedürftigkeit diskutiert wurde, die sich in Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit ausdrückte, rückte Wresinski in diesem Bericht schon die politische Teilhabe und Bildung der Betroffenen in den Fokus. Ähnliches gilt für den nächsten Armutsbericht, den Wresinski nur fünf Jahre später für den Conseil économique et social erstellte und in dem er die Empfehlung formuliert, „La lutte contre l’exclusion sociale“43 [den Kampf gegen soziale Ausgrenzung] als nationale Priorität zu betrachten. Auf diese Berichte musste die Regierung reagieren, und sich dabei auch mit den dort formulierten Ausdeutungen von Armut auseinandersetzen – und eben auch mit dem dort verwendeten Vokabular. Insofern gelang es dem Verband unter anderem durch diese Berichte, seine Ideen von Armut und Armutsbekämpfung zu verbreiten.
Der Begriff „Anwaltschaft“ taucht in Ihrer Arbeit an verschiedenen Stellen auf. Was verstehen die verschiedenen Akteure darunter? Gibt es Unterschiede zwischen den beiden Ländern und zwischen den verschiedenen Verbänden. Inwiefern werden die direkt Betroffenen als politische Akteure wahrgenommen?
Die Rolle des „Anwalt der Armen“ oder der „Lobby der Armen“ haben im Laufe des Untersuchungszeitraums fast alle von mir untersuchten Akteure für sich eingefordert – und natürlich nicht immer ausgefüllt. Das gilt für Parteien und Verbände gleichermaßen. Zwischen den beiden Ländern sehe ich da keine Unterschiede.
Komplexer ist die Frage danach, inwiefern die Betroffenen selbst auf ihre Situation aufmerksam machen konnten und wahrgenommen wurden. In meinem Untersuchungszeitraum sehe ich erste Ansätze der Betroffenen, sich zu organisieren und ihre eigenen Interessen gemeinsam öffentlich zu vertreten – mit ersten kleinen Erfolgen. In Deutschland schlossen sich beispielsweise seit der Mitte der 1970er Jahre Sozialhilfeempfänger zusammen und protestierten in Bonn gegen die Sozialhilfepolitik der Regierung. Zwar gelang es ihnen nicht, die entsprechenden Haushaltsgesetze zu verhindern, aber nachdem die Medien ihr Anliegen aufgriffen fanden ihre Forderungen zumindest öffentliche Aufmerksamkeit. In Frankreich gründete sich 1982 eine Gewerkschaft für Arbeitslose, die allerdings wenige Jahre nach ihrer Gründung wieder zerfiel. Das aus ihr hervorgehende MNCP (Mouvement national des chômeurs et précaires) blieb aber bestehen und vertritt bis heute die Rechte von Arbeitslosen. Unter den Verbänden war es außerdem ATD Quart Monde, die sich am meisten und am frühesten darum bemühten, die Betroffenen selbst in die politische Lobbyarbeit einzubeziehen. Das zeigt sich zum Beispiel 1968, als der Verband die Anliegen der Einwohner aus Elendsbehausungen sammelte und in sogenannten „cahiers de doléances“ [wörtlich: „Beschwerdehefte“] veröffentlichte. Oder auch als 1977 beim Festakt zum Verbandsjubiläum auch Arme selbst auf der Bühne das Wort ergreifen und über ihre Situation berichten konnten.
Zu dieser Frage nach der Selbstorganisation der Armen und auch ihrer politischen Wahrnehmung gibt es bisher wenige Forschungsarbeiten und auch ich konnte sie in meiner Arbeit nur streifen; meiner Ansicht nach besteht hier noch Forschungsbedarf.
Sie beobachten bei verschiedenen in der Armutsdebatte besonders engagierten Akteuren einen gemeinsamen christlichen Hintergrund und widersprechen von daher der in der Forschung lange vertretenen Annahme vom Bedeutungsverlust der Kirchen im öffentlichen Raum. Gilt dies gleichermassen in Deutschland und in Frankreich?
Ja, grundsätzlich lassen sich dafür in beiden Ländern Beispiele finden. Um für jedes Land eines zu nennen: in Frankreich war es der Secours catholique, der Anfang der 1980er Jahre öffentlich auf eine „Neue Armut“ hinwies. Anschließend griff die französische Bischofskonferenz dieses Thema auf und verschaffte ihm mit der Erklärung „Attention pauvretés!“ weitere Aufmerksamkeit. Unter anderem durch diese öffentlichen Appelle drang die Diskussion schließlich bis ins Parlament vor. In ungefähr der gleichen Zeit intensivierte in Deutschland das Diakonische Werk (der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirche) seine Beschäftigung mit der Armutsfrage, was wiederum auf einen Impuls aus der Entwicklungsarbeit der evangelischen Kirche zurückging. Insofern agierte die Kirche mit den ihr nahestehenden Verbänden – oder auch durch diese Verbände – als wichtige Akteurin in der Armutsdebatte.
Aber auch in der parteipolitischen Debatte trat an manchen Stellen die christliche Motivation der Akteure hervor. Dass bestimmte Akteure sich besonders für die Armutsdebatte engagierten, ließ sich nicht immer auf ihre Parteizugehörigkeit zurückführen, sondern oft auch auf religiöse Beweggründe. In Deutschland ist das berühmteste Beispiel dafür Heiner Geißler, der 1975 die Armut unter dem Begriff der „Neuen Sozialen Frage“ öffentlich thematisierte. In dieser Zeit war diese „Neue Soziale Frage“ kein generelles Anliegen seiner Partei CDU, sondern zunächst vor allem Geißlers Thema – das Thema eines überzeugten Katholiken, der dem Caritasverband nahestand. Die christliche Prägung der Akteure nahm also auf verschiedenen Wegen Einfluss auf die Debatte.
Sie zitieren mehrere französische Autoren, die im Rahmen von historischen, soziologischen oder politologischen Studien auf ATD Vierte Welt eingehen, wie etwa André Gueslin, Serge Paugam, Frédéric Viguier. Hat Ihre Arbeit im Archiv der Bewegung ATD Vierte Welt im Joseph-Wresinski-Zentrum Sie auf diesem Hintergrund zu neuen Erkenntnissen oder unterschiedlichen Einschätzungen geführt?
Zu vielen neuen Erkenntnissen, aber zu keinen grundsätzlich unterschiedlichen Einschätzungen. Die Arbeiten dieser Forscher schätze ich sehr – und übrigens waren es unter anderem die Seminare von André Gueslin, der in Paris mein Professor war, die mich zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Armut gebracht haben. Ich würde aber sagen, dass ich deren Arbeiten um einige neue Erkenntnisse ergänzen konnte.
Auf Grundlage des Archivmaterials von ATD Quart Monde konnte ich unter anderem aufzeigen, welche wichtige Rolle der Verband bei der Prägung des Exklusionsbegriffs spielte und dass die Exklusionsdebatte in Frankreich auch schon viel früher begann, als die Forschung es bisher datiert hatte. Das habe ich ja hier schon erläutert. Außerdem konnte ich mit diesen Quellen nachzeichnen, wie der Verband seine Ideen in Politik und Verwaltung verbreitete, nämlich unter anderem durch die Armutsberichte für die Regierung, die Unterstützergruppe im Parlament, die Mitgliedschaft Wresinksis im Wirtschafts- und Sozialrat und generell die kontinuierliche Lobbyarbeit des Verbandes.
Ich konnte außerdem zeigen, dass ATD Quart Monde ebenfalls eine wichtige Rolle in der Debatte um die Mindestsicherung spielte. In Frankreich wurde 1988 mit dem Revenu minimum d’insertion (RMI) erstmals ein beitragsunabhängiges Existenzminimum eingeführt. Einzelne Kommunen hatten in den vorausgehenden Jahren diese Idee schon auf lokaler Ebene untersucht, aber auch ATD Quart Monde hatte in Rennes ab 1985 schon ein eigenes Modell der Mindestsicherung erprobt, das sich deutlich von den anderen unterschied. Die Auswertung dieses Projekts dokumentierte und veröffentlichte der Verband. Wresinski nahm die Ergebnisse natürlich auch in seinen Armutsbericht auf, und so gelangten auch die Vorstellungen des Verbandes wieder in ein Dokument, das direkt an die Regierung adressiert wurde. Insofern prägte der Verband auch durch seine Erforschung der Armut und Erprobung neuer Formen der Armutsbekämpfung auch die Debatte um die Mindestsicherung. Mithilfe der Quellen aus dem Archiv von ATD Quart Monde konnte ich das zeigen.
Sie unterrichten Geschichte an einem Gymnasium.Was möchten Sie heute auf dem Hintergrund Ihrer Forschungsarbeit jungen Menschen vermitteln?
Ich würde gerne mehr Sensibilität dafür schaffen, dass Armut nicht an eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten geographischen oder politischen Raum gebunden ist, sondern dass sie räumliche und zeitliche Grenzen überschreitet. Das klingt jetzt nach einer sehr banalen Erkenntnis, aber in meiner Forschung habe ich erstens gesehen, wie häufig Armut als etwas angeblich Neues entdeckt und behandelt wurde, und wie oft übersehen wurde, dass man es eigentlich mit einem strukturellen und dauerhaften Phänomen zu tun hatte. Die Debatte um die „Neue Armut“ ist ein Paradebeispiel dafür.
Zweitens wurde diese angeblich neue Armut auch in einem sehr nationalen Bezugsrahmen diskutiert und bekämpft. Obwohl Frankreich und die Bundesrepublik in vieler Hinsicht so eng zusammenarbeiten, suchten die Funktionsträger in Politik und Verwaltung keinen Austausch mit dem Nachbarland, wenn es um die Armutsbekämpfung ging – und das, obwohl beide Länder mit extrem ähnlichen Problemlagen konfrontiert waren. Auch in einer Zeit der fortschreitenden europäischen und globalen Verflechtungen wurde Armut also immer noch in einem nationalen Kontext verhandelt. Dabei hätte der grenzüberschreitende Austausch vielleicht neue Erkenntnisse oder politische Anregungen für die Armutsbekämpfung gebracht.
In meinem Unterricht versuche ich daher, den Blick meiner SchülerInnen auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung zu lenken und damit eine Sensibilität für diese Problemlagen zu schaffen. Und überhaupt mehr den Alltag der Bevölkerung und insbesondere der unteren Schichten zu betrachten. Solche Themen werden bei uns im Geschichtsunterricht oft vergessen, weil unsere Lehrpläne sehr politikgeschichtlich dominiert sind. So oft es geht versuche ich auch, europäische und internationale Geschichte zu berücksichtigen und den Unterricht nicht zu stark an den deutsch-nationalstaatlichen Kontext zu binden. Ich hoffe, damit einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass meine SchülerInnen etwas mehr über Landes- und Zeitgrenzen hinausdenken und eine Sensibilität für Problemlagen in der Bevölkerung entwickeln.