Die Aufgaben und Rollen müssten aufgeteilt werden, heisst es oft, um mit den Katastrophen und Dramen, die unsere Welt erschüttern, fertig zu werden. Da sind zum einen die Helfer in der Not, sie sind zuständig für die Aufgaben, die eine Notsituation mit sich bringt, für den Kampf ums Überleben; zu dieser Gruppe gehören sowohl Fachleute als auch viele Freiwillige verschiedener Organisationen. Die anderen, die Politiker und Entscheidungsträger, sind darum besorgt, über die Zukunft nachzudenken und sich für sie zu rüsten.
Aber ist diese geteilte Verantwortlichkeit und die Art der Arbeitsteilung wirklich der richtige Weg?
Familien, die im tiefsten Elend leben müssen, haben keine Wahl: Sie sind gezwungen, tagtäglich von neuem die Not zu bekämpfen, dem Hunger, der Kälte, den fehlenden Ressourcen zu trotzen und ihre Kinder zu beschützen. Ohne ihren unermüdlichen Mut, sich den Anforderungen einer Notlage zu stellen, hätten sie keine Chance zu überleben. Doch genau diese Situationen zwingen sie, von einem Tag zum nächsten zu leben, und verbieten ihnen, Zukunftspläne zu schmieden. Dass dadurch ein zukunftgerichtetes Leben unmöglich ist, wissen die betroffenen Familien selbst am besten.
Auch Joseph Wresinski wusste dies, denn auch er war im Elend geboren worden. Gerade weil er wusste, was Armut bedeutet, versuchte er schon früh, sie zu bekämpfen und begann deshalb 1956 im Obdachlosenlager von Noisy-le-Grand zu arbeiten, dessen Bewohner grosse Not litten. Von Beginn weg suchte er nach Massnahmen, die einerseits die Misere linderten und andererseits den Menschen erlaubten, eine Zukunft aufzubauen: Indem er die kostenlose Kleiderabgabe durch einen Flohmarkt ersetzte, wo Wäsche und Kleider zu einem symbolischen Preis verkauft wurden. Durch dieses Angebot konnte die Würde dieser Männer und Frauen gewahrt werden. Gleichzeitig bot dieser Markt ihnen die Gelegenheit, sich zu versammeln und zusammenzuschliessen, um die Planung ihres Alltags in die eigene Hand zu nehmen, ihre Ideen auszutauschen und in einen Dialog mit der sie umgebenden Welt zu treten.
Auch bei den Ereignissen im Mai und Juni 1968 konnten wir helfen: Weil die öffentlichen Einrichtungen streikten, waren unzählige Familien in den Elendsvierteln und Siedlungen der Region Paris und in anderen Teilen des Landes vom öffentlichen Leben abgeschnitten. Sie waren nicht mehr in der Lage, Lebensmittel zu beschaffen oder ihre Kinder einzukleiden und waren ausserdem ihrer Mobilität beraubt. Angesichts dieser Notsituation konnten die Volontärinnen und Volontäre der ATD Vierte Welt nicht untätig zuschauen und organisierten eine Sammelaktion, um Geld und Lebensmittel zusammenzutragen. Sie achteten darauf, dass die Hilfsgüter gerecht verteilt und dabei die Ehre und Würde des Einzelnen gewahrt wurden. In den betroffenen Quartieren bildeten die Bewohner Solidaritätskomitees, die darauf die dringlichsten Aufgaben in die Hand nahmen und gleichzeitig auch mit der Führung eines „Beschwerdenheftes“ begannen. Diese Dokumentation zeugt vom Wunsch der Einwohner, die sich im Jahr darauf die Vierte Welt nennen sollten, aus der Misere herauszukommen, von den staatlichen Institutionen in Entscheidungsfragen miteinbezogen zu werden und sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen.
Auf der Grundlage dieser Hefte wurde eine öffentliche Erklärung mit dem Titel „Ein Volk spricht“ publiziert, die sich an „die obersten Instanzen der Nation, die Verantwortlichen der Charta der Menschenrechte und an alle, die an den Menschen glauben,“ richtete. Diese öffentliche Erklärung, die im Juli 1968 herausgegeben wurde, stellt im zweitletzten Absatz folgende Frage: „Nützen unsere Reformen nur jenen, die bereits zu Wort kommen, oder helfen sie auch den anderen, sich Gehör zu verschaffen? Keine der heute ausformulierten Forderungen, keine der angekündigten Reformen sieht vor, die Armutsbevölkerung als ebenbürtigen Partner miteinzubeziehen – ein Volk, dessen Stimme wir bis heute noch nie in unseren politischen Organen gehört haben.“
Nach dem Erdbeben vom letzten Januar ist unsere Organisation heute in Haiti erneut inmitten der Not präsent. In Partnerschaft mit anderen Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel der „Action contre la Faim“, setzen wir uns für die gerechte Verteilung von Hilfsgütern ein, so dass diese auch zur Bevölkerung in schwer erreichbaren Gebieten gelangen. Gleichzeitig unterstützen wir das Projekt „Yon vwa pou pep la“ (dt: Eine Stimme für das Volk). Dieses von der Uno und der haitianischen Zivilgesellschaft getragene Projekt versucht der Bevölkerung eine Stimme zu geben und dient den Haitianern als Plattform, um sich über ihre Zukunftswünsche für das Land und die gemeinsame Umsetzung dieser Ideen auszutauschen. Michèle Montas, Beraterin bei der UNO, hat persönlich den Wunsch geäussert, dass sich die ATD Vierte Welt für dieses Projekt einsetze. Damit soll erreicht werden, dass die Anliegen der ärmsten Familien, nämlich jener, die in den Stadtteilen Grande Ravine und den Nachbarquartieren von Haut Martissant leben, Gehör finden. Aus diesem Projekt ist ein Dokument entstanden, das zusammen mit weiteren Unterlagen an der Internationalen Geberkonferenz für Haiti ausgehändigt wurde.
Inmitten grösster Not, sei es 1957 in Noisy-le-Grand oder 2010 in Port-au-Prince, geht es um die Zukunft eines Volkes. Es gilt, gemeinsam dessen Zukunft zu gestalten und aufzubauen, denn die Menschen selbst sind die wichtigsten Partner auf dem Weg zur Eigenständigkeit. Dies ist die Herausforderung, die unsere Gesellschaft anzugehen hat, indem sie die Erfahrung und die Denkweise jedes Einzelnen miteinbezieht. Täte sie dies nicht, wie kämen wir dann voran, auf unserem Weg hin zu einer Welt, welche die Gleichberechtigung und Würde aller Menschen anstrebt?