Anlässlich des Welttages gegen Kinderarbeit am 12. Juni 2006 machte UNICEF auf die anhaltende Ausbeutung von Kindern in der Landwirtschaft aufmerksam.1 Nach neuesten Schätzungen arbeiten weltweit über 132 Millionen Mädchen und Jungen unter fünfzehn Jahren auf Farmen und Plantagen. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten herrschten auch in der Schweiz prekäre wirtschaftliche Verhältnisse. Kinderarbeit in der Landwirtschaft durch die eigenen, aber insbesondere durch familienfremde Kinder hat ebenfalls in der Schweiz eine lange Tradition.
Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurden in der Schweiz Zehntausende fremd platzierter schulpflichtiger Kinder in erster Linie als willkommene und billige Arbeitskräfte betrachtet und vornehmlich in der Landwirtschaft eingesetzt. Solche Kinder, die überwiegend elternlos waren, unehelich geboren wurden oder aus armen oder zerrütteten Familien stammten, wurden - regional unterschiedlich - unter anderem als Verdingkinder oder Kostkinder bezeichnet.2 Die dabei gemachten Erfahrungen waren für viele Betroffene einschneidend und für das ganze Leben prägend. Während die aktuellen Abläufe der Fremdplatzierung in Pflegefamilien in einem Nationalfonds-Projekt bereits untersucht wurden3, ist (nebst einer überblicksartigen Darstellung der Fremdplatzierung4) eine wissenschaftliche Erforschung des Verdingkinderwesens aus (sozial-)historischer Sicht in der Schweiz erst in Ansätzen, vor allem in Lizentiatsarbeiten5, vorhanden.
Im Jahre 2004 führte Prof. Geneviève Heller 2004 im Rahmen einer Machbarkeitsstudie Gespräche mit Betroffenen6 aus der französischen Schweiz.
Es besteht hier eine sozialwissenschaftliche und sozialhistorische Forschungslücke. Besser erforscht sind regionale Besonderheiten wie der saisonale Einsatz von Verdingkindern in der Ostschweiz, die sogenannte Schwabengängerei7 und die zwangsweise Kindswegnahme von Jenischen.8
Zeiten der Not
Das Verdingkinderwesen in der Schweiz ist eng mit dem Begriff der Armut verknüpft. Tatsächlich führten viele Menschen in der Schweiz noch im 20. Jahrhundert ein sehr kärgliches und entbehrungsreiches Leben. Vergleichbar mit heutigen Entwicklungsländern, zwang unsagbare Not auch in der Schweiz viele Eltern, ihre Kinder frühzeitig in den Arbeitsprozess einzugliedern. Die Kinder ermöglichten damit der Familie ein zusätzliches und oft dringend notwendiges Einkommen. Kinder armer Familien wurden ebenso häufig tagsüber auf Bauernhöfen beschäftigt, um sie zumindest » ab der Kost« zu haben. Kinderarbeit war somit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Je ärmer die Familie war, umso größer und wichtiger war der Beitrag der eigenen Kinder.
Der Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft von Kindern im Allgemeinen und von Verdingkindern im Besondern scheint erst dann bedrohliche Formen angenommen zu haben, als die Landwirtschaft durch die Abwanderung von Arbeitskräften unter dem zunehmenden Dienstbotenmangel zu leiden begann.9 Landwirtschaftliche Kreise interessierten sich stark für die armengenössigen Kinder. Dies hatte aber weniger mit Wohltätigkeit als mit dem Bedarf an Hilfskräften in der Landwirtschaft zu tun.
Gesetzliche Situation
Das im Jahr 1877 erlassene eidgenössische Fabrikgesetz brachte zwar unter anderem das generelle Verbot von Kinderarbeit unter vierzehn Jahren in der Industrie. In der Landwirtschaft hingegen, wo eine Großzahl der Verdingkinder und Kinder bedürftiger Eltern eingesetzt wurden, wurde die Arbeit nie gesetzlich geregelt. Erst mit der Revision des Kindesrechts von 1978 hätte der gesetzliche Schutz auch für die Verdingkinder gegolten.
Erschwerend kam für Verdingkinder hinzu, dass Fürsorgekreise seit der Reformation harte Arbeit für arme Kinder propagierten. Arbeitsamkeit, Fleiß und Tüchtigkeit galten bis ins 20. Jahrhundert als erstrebenswerte Erziehungsziele. Fürsorgekreise sahen in der Sozialdisziplinierung ein Mittel, um bei Unterschichten bürgerliche Verhaltensweisen und Arbeitsdisziplin durchzusetzen.10
Während heutzutage bei der Bekämpfung der Armut sogenannte kompensatorische Maßnahmen ins Auge gefasst werden, indem zum Beispiel die schulische Leistung der in Armut aufwachsenden Kinder gefördert wird, trat dieser Aspekt bei den Verdingkindern klar in den Hintergrund. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts begann man sich zunehmend um das leibliche und geistige Wohl des Kindes zu kümmern.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Vor diesem Hintergrund wurde Anfang 2004 das Gesuch „Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen von Fremdplatzieung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert“ beim Schweizerischen Nationalfonds eingereicht. Ende 2004 wurde dieses teilweise bewilligt. Bewilligt wurde das Führen von Gesprächen mit 200 Betroffenen. Dank zusätzlich gesprochener Mittel Dritter konnten zwischen 2005 und 2008 mit über 230 betroffenen Personen Gespräche geführt werden. Zusammen mit weiteren 49, in den 1990er Jahren von Marco Leuenberger geführten Gespräche, enstand so eine Sammlung von 290 Gesprächen mit ehemaligen Verding- und Heimkindern aus der Deutschschweiz.
Vorgehen und Methode
Vom lebensweltlich orientierten Ansatz11 und dem angepassten Leitfaden von Prof. Geneviève Heller Racine ausgehend, befragten wir die 230 ehemaligen Verdingkinder an ihrem Wohnort. Wir führten die Interviews als qualitative, lebensgeschichtliche, Leitfaden gestützte Gespräche, welche digital aufgenommen und später transkribiert wurden. Das heisst, diese begannen mit einer einheitlichen Einstiegsfrage nach den Umständen, die zu einer Verdingung geführt hatten. In dieser ersten und meist auch umfangreichsten Phase erhielten die Interviewten die Möglichkeit, ihre Gedankengänge frei zu entfalten und eigene Schwerpunkte in ihrer Erzählung zu setzen. Im Anschluss wurden Lücken geschlossen und unklare Zusammenhänge erläutert. In einem dritten Schritt regten wir anhand des Leitfadens weitere Erzählungen an. Die gewählten Themenblöcke beinhalten Fragen, die zusätzliche Analysen zu ökonomischen, kulturellen, regionalen, konfessionellen und geschlechtsspezifischen Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten erlauben.
Alle Betroffenen hatten sich freiwillig zu diesem Schritt entschieden. Die meisten waren einem Aufruf im Sendeformat “Schweiz Aktuell“ des Deutschschweizer Fernsehens gefolgt. So meldeten sich vorwiegend Betroffene mit deutscher Muttersprache. Wegen der grossen Zahl gesprächsbereiter Betroffener (und weil Frau Prof. Dr. Geneviève Heller-Racine bereits ein Projekt in der Westschweiz realisierte) beschränkten wir uns weitgehend auf die Deutschschweiz.
Mit allen Mitarbeitenden führten wir eine Interviewschulung durch. Dabei galt es, auch eine gute Vertrautheit mit den Fragen des Leitfadens zu erreichen, um so eine möglichst grosse Einheit bei der Führung der Gespräche zu erhalten. Dies im Hinblick auf spätere Auswertungen.
Nächste Schritte
Nachdem ein derart wertvoller Quellenbestand vorliegt, ist eine historische, sozialwissenschaftliche Untersuchung dringend notwendig. Sie besteht in einer vertieften quantitativen und vor allem qualitativen Auswertung des vorhandenen Materials sowie der noch zu erschliessenden Archive. Im Kanton Bern wurde im Zuge einer Motion Geld für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Berner Verdingkinderwesens gesprochen. Weitere Kantone sollen folgen.
Ziel ist es, Verdingkinder als historische Subjekte in der Schweizer Geschichte sichtbar zu machen, das Unrecht gegenüber Wehrlosen wahr zu nehmen, die harten Schicksale zu würdigen und die gesellschaftlichen und familiären Kontexte zu erhellen, die Verdingkinder interessanterweise recht unterschiedliche Erfahrungen machen liessen.
Verdingkinder im Kanton Bern
2006 wurde die von Margrit Stucki-Mäder (SP) eingereichte Motion mit dem Ziel der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Schweizer Verdingkinderwesens im Kanton Bern, vom Parlament teilweise gutgeheissen.
Von 2008 bis 2010 wird eine Rekonstruktion der Lebenswelten von Verdingkindern im Kanton Bern im 20. Jahrhundert angestrebt. Insbesondere sind auch die spezifischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen, das Alltagsleben sowie der heutige Umgang der Interviewpartner mit ihrer Vergangenheit von Interesse. Neben der qualitativen Auswertung der geführten Interviews, den Kanton Bern betreffend, steht die Archivrecherche in einzelnen deutschprachigen Gemeinden im Zentrum.
Zur Zeit arbeiten zwei Historiker und eine Soziologin an diesem Projekt. Dabei stehen Fragen nach der konkreten Umsetzung auf Gemeindeebene, den möglichen Folgen von Gesetzesänderungen und Reformbemühungen auf institutioneller Ebene im Vordergrund. Ebenso wird der Frage nachgegangen, in wie weit ein Paradigmenwechsel von materiellem Wohl des Kindes zur Wahrung des leiblichen und geistigen Wohles im Untersuchungszeitraum erkennbar wird. Welche Rolle spielte dabei die Religion und wo ist die Arbeit von privaten Organisationen anzusiedeln ? Sind Unterschiede feststellbar zwischen Kinder, die von Behörden fremdplatziert wurden und solchen, die von den eigenen Eltern in fremde Pflege gegeben wurden ? Schliesslich stellen sich Fragen nach den Unterschieden von Werten und Normen : leibliche Familie vers. Pflegefamilie und der sozialen Einbindung der Verdingkinder auf den Ebenen : Pflegefamilie, Schule, eigene Familie/Verwandtschaft, Nachbarschaft/Dorf/Gemeinde.
Mit dem Kanton Bern wird ein Anfang in der systematischen wissenschaftlichen Aufarbeitung des Schweizer Verdingkinderwesens gemacht. Da die Fremdplatzierung, bedingt durch den Föderalismus kantonal geregelt war und auf Gemeindeebene umgesetzt wurde, müssen diesen Untersuchungen, um Vergleiche ziehen zu können, in anderen Kantonen fortgesetzt werden.
Deutscher Originaltext (die in der Zeitschrift abgedruckte französische Übersetzung ist leicht gekürzt)