Entscheidungsfreiheit

Lena Weissinger

Traduction de Erika Forney

p. 40-42

Traduction(s) :
La liberté de choisir

Citer cet article

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Lena Weissinger, « Entscheidungsfreiheit  », Revue Quart Monde, 239 | 2016/3, 40-42.

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Lena Weissinger, « Entscheidungsfreiheit  », Revue Quart Monde [En ligne], 239 | 2016/3, mis en ligne le 01 janvier 2017, consulté le 29 mars 2024. URL : https://www.revue-quartmonde.org/8417

Die Autorin legt uns Gedanken vor zu ihren Begegnungen mit Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in der Schweiz : Sans-Papiers, abgewiesene Asylbewerber.

„Ich habe immer auf die richtige Person gewartet. Du bist die richtige Person und daher ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Ich wollte das mit niemandem sonst tun“, sagt die Frau mir gegenüber auf die Frage, warum sie so viele Jahre gewartet hat ihr Härtefallgesuch beim Migrationsamt einzureichen. Hilfe und Unterstützung bei diesem rechtlichen Bemühen um eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen hatten ihr einige sehr kompetente und einfühlsame Menschen schon mehrfach angeboten.

Aber diese Frau hat immer nein gesagt, sie hat mich nach langen Gesprächen und Stunden intensiver und ehrlicher Begegnung ausgewählt und ist bei ihrer Wahl geblieben. Für mich war hingegen schon lange klar gewesen, dass ich diesen für sie lebensentscheidenden Schritt mit ihr gehen wollte – in welchem Moment ich also meine Entscheidung tatsächlich getroffen habe, kann ich gar nicht sagen. Wahrscheinlich schon bei unserer ersten Begegnung.

Ich habe die Freiheit dieser Frau immer bewundert – nein zu sagen, auch wenn „der Rest der Welt“ meint, man müsse als Sans-Papiers jedes Angebot und jede gutgemeinte Geste annehmen und dankbar dafür sein. Nach über 16 Jahren Leben ohne Aufenthaltsbewilligung, oftmals ohne Wohnung und ohne Geld, täglich mit der Angst in eine Kontrolle zu kommen, weit, weit entfernt von der geliebten Familie, über lange Zeit krank und müde, das hat diese Frau sehr geprägt. Ihr Vertrauen und Ihre Hoffnung, die sie in mich gesetzt hat, sind sicher zwei der grössten Geschenke, die mir jemand in den letzten Jahren gemacht hat.

Wir kamen mit leeren Händen

Als Volontärin habe ich mich oft in Situationen wiedergefunden, in denen ich ganz und gar auf andere Menschen angewiesen war. Vielleicht war das tatsächlich immer der Fall, nur manchmal war mir das nicht bewusst. Ich erinnere mich gut an die regelmässigen Besuche in verschiedenen Notunterkünften, u.a. in einem Bunker, wo männliche abgewiesene Asylbewerber ohne Perspektive unter sehr schwierigen Umständen leben. Wir kamen mit leeren Händen und erfüllten keine der uns entgegen gebrachten Erwartungen nach üblicher, oftmals finanzieller oder materieller Unterstützung – wir waren einfach da. Das hat uns alle sehr herausgefordert und gleichzeitig Raum eröffnet für eine andere Art der Begegnung, wo jeder seinen Teil dazu beitragen muss, weil sich sonst nichts bewegt.

Die Menschen, denen ich im Alltag begegne, haben keinen Grund mir vom ersten „Hallo“ an zu vertrauen, sie kennen mich ja gar nicht. Und ATD Vierte Welt auch nicht. Sie wissen nicht, was wir wollen oder was wir tun. Ich selbst kann nur einen Schritt in Richtung einer Person machen. Wenn ich ihren privaten Bereich nicht ungefragt durchrechen will, muss ich Platz lassen, dass sie den nächsten Schritt machen kann. Eine Begegnung findet von beiden Seiten statt – mit Raum nach hinten und zu den Seiten, dass jeder sich immer wieder frei entscheiden kann, wie weit er Nähe zulassen möchte.

Freiheit. Vielleicht war es mir in meiner Zeit als Volontärin das Wichtigste, die Freiheit der Menschen, denen fast alle Entscheidungsmacht über ihr eigenes Leben genommen wurde, denen man tagein, tagaus Vorschriften macht über alles, was sie tun müssen, dürfen und können, und die oft nach Jahren in der Asylmaschinerie vergessen haben, was ihre Fähigkeiten und Stärken sind, zu respektieren und nach diesem Grundsatz auch zu handeln. Wo immer es möglich war, die Ausübung jeder noch so kleinen Freiheit von Entscheidungen, Vorlieben und Meinungen zu unterstützen und wachsen zu lassen.

Verpasste Begegnungen

Das ist nicht immer einfach gewesen. Ich habe viele Programme von Organisationen, Kirchen und Vereinen gesehen, die aus einer ehrlichen und guten Motivation heraus geplant und durchgeführt wurden, die aber vollkommen an den Menschen, für die sie gemacht wurden, vorbeigingen. Noch mehr solcher Projekte habe ich gesehen, die nach kurzen Versuchsphasen abgebrochen wurden, weil man nicht auf Anhieb die erwünschte positive Reaktion der Betroffenen erhielt. Der Grund, so die Organisatoren, sei das Desinteresse oder der mangelnde Integrationswillen der abgewiesenen Asylsuchenden gewesen. Ich weiss nicht, ob man die Menschen aus Afrika, Süd-Amerika oder Afghanistan überhaupt einmal nach ihrem Eindruck gefragt hat.

„Ach, ja, letzte Woche war ein Schweizer Mann mit ganz vielen Trommeln da. Er hat einen Workshop angeboten, wir sollten alle gemeinsam Musik machen“, erzählt mir ein sudanesischer Mann in einem Nothilfezentrum. Wie alle anderen dort, lebt er seit Jahren ohne konkrete Zukunftsaussichten in dieser trostlosen Unterkunft, darf nicht arbeiten und weiss nicht, ob und wann er vielleicht in sein Heimatland ausgeschafft wird. Er empfindet sein Leben als unerträglich monoton und langweilig. Daher bin ich hell erfreut, als er mir von diesem Angebot eines Freiwilligen erzählt, der sich die Mühe gemacht hat ins isoliert gelegene Zentrum zu kommen, um über Musik einen Annäherungsversuch zu starten. Das Wort „sollte“ überhöre ich bequem. „Und wie war es ?“, frage ich ihn. „Ich bin gar nicht hingegangen.“ – „Warum denn nicht ?“, ich bin überrascht und auch etwas erschrocken, denn ich merke ruckartig, dass ich in eine Falle getappt bin, die man sich mit gutgemeinten Angeboten und den damit verbundenen Erwartungen so oft selber stellt. „Ich hatte an dem Tag einfach keine Lust.“

Ich bewundere auch diesen Mann – eigentlich beide Männer in dieser Begegnung, die fast stattgefunden hätte. Ich wünsche mir für alle Menschen, dass ihnen die Freiheit zugestanden wird, eigene Entscheidungen zu treffen, vor allem, wenn es darum geht, dass ja „gutgemeinte“ Angebote gerade ihnen „guttun“ sollen. Der Schweizer, der an jenem Nachmittag allein mit seinen Trommeln im Aufenthaltszentrum der Notunterkunft sass, wird niemals wissen, dass auf eine ganz eigene Weise das Nichterscheinen der Menschen ein Ausdruck ihrer eigenen Entscheidungsmacht und eine Erinnerung daran ist, dass man ihnen nicht alles vorschreiben oder verordnen kann und darf. Es braucht auch keine komplizierten Erklärungsversuche. Manche hatten an dem Tag einfach keine Lust zum Trommeln.

Leider weiss ich nicht, ob der Mann mit seinen Trommeln noch einmal wiedergekommen ist. Ich wünsche es mir von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass er nicht verbittert oder enttäuscht angesichts dieser vermeintlichen „Undankbarkeit der Flüchtlinge“ aufgegeben hat, sondern dass er sein Angebot aufrechterhält.

Unsere eigenen Erwartungen korrigieren

Wir waren ganze Nachmittage „allein“ in der Notunterkunft im Bunker, an denen niemand das Bedürfnis hatte mit uns zu sprechen, Stunden, in denen wir unsere eigenen Erwartungen und die damit verbundenen Stiche („sie sollten“) überdacht und korrigiert haben. Wertvolle „geschenkte“ Zeiträume, die uns beigebracht haben, die nächsten Begegnungen noch offener und präsenter zu erleben. Und manche Menschen sagten später zu uns, „Ja, wir haben verstanden, wir müssen uns nicht mit Euch unterhalten, wenn uns gerade nicht danach ist. Ihr kommt trotzdem wieder.“

Letzte Woche traf ich einen algerischen Mann, den ich mehrere Jahre lang jeden Mittwochnachmittag in einem Nothilfezentrum gesehen habe, wo wir mit Kindern spielten. Wir haben nie mit einander gesprochen. Jetzt haben wir uns an einem anderen Ort getroffen und es ergab sich eine Unterhaltung. Ich wollte ihm von ATD Vierte Welt erzählen, was wir tun, wer wir sind, aber er winkte lächelnd ab. „Ich weiss schon alles, was ich wissen muss. Ich habe drei Jahre lang gesehen, was Du machst. Jetzt brauche ich Deine Hilfe.“ Ich weiss, dass es sein Mut und seine Entscheidung sind, die heute unsere Begegnung ermöglichen, und die uns diese frei und mit tiefem Respekt leben lassen.

Lena Weissinger

Lena Weissinger ist Rechtsanwältin aus Deutschland und war von 2010-2016 Volontärin von ATD Vierte Welt in der Schweiz. Während viereinhalb Jahren leitete sie in Zürich ein Begegnungsprojekt mit Personen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus in der Schweiz ausgegrenzt werden. Ziel war unter anderem zu verstehen, wie diese Personen ihre Situation erleben, und diese Kenntnis in die Bewegung ATD Vierte Welt einzubringen.

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