Wie können Arme als Partner mit andern zusammenarbeiten, wenn sie sich verpflichtet fühlen, sich zu verstecken?
In der Schweiz verlangen 40 % der Personen die Sozialleistungen nicht, auf die sie einen Anspruch hätten. Der Grund dafür liegt einerseits in der mangelnden Kenntnis ihrer Rechte, aber nicht nur. Das Team von Stéphane Rossini von der Universität Neuenburg hat eine Untersuchung über versteckte Armut in der Schweiz durchgeführt und die Ergebnisse im Jahre 2002 publiziert.1 Unter den 165 erforschten Biographien befanden sich 71, in denen die Anspruchsberechtigten die ihnen zustehenden Leistungen absichtlich nicht verlangt hatten. Der Hauptgrund für diese Haltung liegt darin, dass diese Leute sich schämen, vom Geld zu profitieren, das sie nicht selber auf ehrliche Art verdient haben.
Ein Film, der das Verständnis fördert
Innert zwei Jahren wurde eine DVD2 mit 8 Kurzfilmen hergestellt, realisiert wurde sodann auch eine zweite Scheibe mit nicht verwendeten, aber interessanten Sequenzen. Die zu Wort kommenden Personen äusserten sich darin über ihre eigene Lebenswelt und vor allem auch über die Art ihrer Beziehung zur Gesellschaft.
Von den 200 Filmsequenzen betrafen 50 die Verwaltung. Die Betroffenen äusserten sich vor allem über Probleme mit den Behörden. Das hängt aber vermutlich damit zusammen, dass das Thema Armut bei der Befragung im Vordergrund gestanden ist. Die Logik der Verwaltung ist manchmal allzu weit entfernt von der gelebten Realität!
Ich finde es interessant, dass die wenigen Personen, welche den Mut hatten, auf ihren Ideen zu beharren, die Entscheidungen beeinflussen konnten, die sie betrafen. Wenn die Leute von Unterstützung sprachen, so kam diese nicht von den Institutionen, welche eigentlich zu diesem Zweck da sind, sondern von ihrer unmittelbaren Umgebung, von ihren Familien und ihren Freunden. Die Tatsache, regelmässig an einen Begegnungsort zu kommen und an Projekten teilnehmen zu können, wie zum Beispiel der Aufführung eines Theaterstückes, scheint sich für die involvierten Personen sehr positiv auf ihr Wohlbefinden auszuwirken.
Zu Beginn des Projektes war die Zielvorstellung folgende: Den Personen, welche Erfahrungen mit der Armut haben, die Möglichkeit geben, sich zu äussern sowie den Dialog zwischen den Ärmsten und der Bevölkerung ermöglichen. Ich hatte auch die Absicht, die Ärmsten als Partner an diesem Projekt zu beteiligen.
Nach Projektende war ich erfüllt vom Gefühl, am Leben der Betroffenen teilgenommen zu haben, konnte aber schlussendlich nicht sagen, was dieses Projekt erfolgreich machte. Ebenso wenig wusste ich, inwieweit ich die angestrebten Ziele erreicht hatte. Trotzdem schien es mir wichtig sicherzustellen, dass die aus dieser Erfahrung gewonnenen Einsichten von anderen übernommen und weitergeführt werden könnten.
Als ich den Vorschlag erhielt, im Rahmen eines Diplomstudiums an der Universität Tours3 meine berufliche Erfahrung als Volontär aufzuarbeiten, hielt ich diese DVD in den Händen. Die Möglichkeit, mit meinen Erfahrungen zu arbeiten, war wie die Antwort auf eine Frage, die ich noch gar nicht stellen konnte. Zu Beginn der Ausbildung formulierte ich als Untersuchungsgegenstand folgende Frage:
«Welches sind die Bedingungen, die es öffentlichen oder privaten Stellen ermöglichen, den Ärmsten eine Mitsprache zu geben, sie als Partner zu betrachten und ihren Beitrag zur Bildung einer gerechteren Gesellschaft zu nutzen? » Dieser Satz beinhaltet gute Absichten und den Wunsch, ein einfaches Rezept für eine komplexe Frage zu finden.
Die Konfrontation mit wissenschaftlichen Werken hat mir geholfen, etwas weiter zu gehen. Mit den beiden Autoren André de Peretti und Edgar Morin habe ich entdeckt, dass “komplexe Frage“ nicht das Synonym ist für „komplizierte Frage“, und dass diese Erkenntnis zu einem besseren Verständnis der Wirklichkeit führen kann.
Die Meinung mehrerer Autoren, vor allem aber Fabrice Dhume im Buch «Du travail social au travail ensemble»4 (Von der Sozialarbeit zur Gemeinschaftsarbeit), haben mir gezeigt, dass die Partnerschaft eine Möglichkeit ist, die Komplexität zu meistern.
Es besteht aber die Gefahr, dass die Partnerschaft auf der Ebene der reinen Absicht verhaftet bleibt. Dies ist zu umgehen, wenn man sich ernsthaft folgende drei Fragen stellt:
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Wieso kommt man zusammen? Jeder Partner muss ein Interesse an der Realisierung des Projektes haben. Man kann die Partnerschaft nicht verfügen!
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Wie stellt man sicher, dass die Partner gleichwertig sind? Man muss die Gefahr von Konflikten akzeptieren. Sie erlauben, die Unterschiede wahrzunehmen und eine gemeinsame Kultur zu erschaffen.
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Was macht man mit gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen? Es ist wichtig, dass das Resultat der gemeinsamen Arbeit als etwas Neues anerkannt wird, eine Erfindung, die es ermöglicht, alte Gewohnheiten umzustürzen.
Die Verwirklichung eines Projektes zusammen mit Partnern, die grosse kulturelle Unterschiede aufweisen, ist keine einfache Sache und das Resultat entspricht oft nicht den optimistischen Vorstellungen beim Start des Projekts. Genau deswegen wollte ich den Stellenwert der Partnerschaft bei der Entwicklung unseres audiovisuellen Werkzeugs genauer betrachten. Ich wollte schauen, wie weit dieses Werkzeug ein Beitrag sein kann zur Bildung von konstruktiven Beziehungen zwischen den Ärmsten und den verschiedenen Stellen in der Gesellschaft.
Ein Werkzeug für die Vermittlung…
Zum Thema meiner Untersuchung ist anzufügen, dass ich verstehen wollte, wie die verschiedenen Hauptbeteiligten die Erarbeitung dieses audiovisuellen Instrumentes erlebt haben und inwiefern dieses tatsächlich ein Werkzeug zur Vermittlung innerhalb der Partnerschaft sein kann.
Mit einem Fragebogen, der mehr oder weniger nach dem zeitlichen Eintritt der Ereignisse aufgebaut war, habe ich mich zuerst mit den drei Personen, die ich am besten kannte, getroffen. Diese hatten schon langjährige Erfahrungen mit ATD Vierte Welt. Dann habe ich die gleichen Fragen zwei Personen vom B’Treff5 gestellt, die ich bei Kontakten im Laufe dieser Projektarbeiten getroffen hatte. Das sind alles Leute, welche Armut am eigenen Leib erlebt haben.
Ich habe keine erwähnenswerten Unterschiede feststellen können zwischen den beiden Personengruppen. Alle fünf Personen hatten den Willen, sich zu beteiligen, hatten aber gleichzeitig grosse Angst davor, von ihrer Umgebung kritisiert zu werden und dass dies negative Auswirkungen für ihre Kinder haben könnte. Eine Motivation zu sprechen war auch, sich für andere einzusetzen, die sich nicht trauten. Sie wollten Veränderungen ermöglichen für alle, die in ähnlichen Situationen leben. Alle fünf hatten die Überzeugung, etwas zu sagen zu haben.
Die zwei Personen vom B’Treff hatten etwas gemeinsam mit den Mitgliedern von ATD Vierte Welt. Sie hatten in der Vergangenheit ebenfalls die Gelegenheit gehabt, sich mit anderen über ihr Leben und über die Armut im Allgemeinen auszutauschen.
Mit den zwei neuen Personen bin ich vor allem auf zwei Erfahrungen zurückgekommen, die mehr mit der besonderen Situation der Gruppe zu tun haben. Der Film, in dem sie sprechen, wurde mit ihrem Einverständnis am Ort gezeigt, wo sie wohnen. Eine der beiden hat an der Filmpräsentation nicht teilgenommen, und zwar aus Angst, dort Leute anzutreffen, denen sie nicht gerne begegnen wollte. Nachher war diese Person aber erstaunt über die positiven Reaktionen und das Ausbleiben irgendwelcher negativen Äusserungen seitens der Dorfbewohner. Später haben diese beiden Personen an einem Ausbildungslehrgang „für ein soziales Engagement“, mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten, teilgenommen. Zum Thema Armut haben sie aber nichts gesagt, obwohl sie mit den Äusserungen der anderen Teilnehmer überhaupt nicht einverstanden waren. Sie sagten, sie hätten keine unendliche Diskussion provozieren wollen, bei der viele Begriffe falsch verstanden werden könnten.
Diese Auswertung mit den fünf Interviews wurde ergänzt durch ein Gespräch mit zwei Erwachsenenbildnern. Diese hatten in diesem Projekt eine Doppelrolle. Einerseits hatten sie ein Interesse an der Entwicklung eines audiovisuellen Werkzeugs, um es in der Erwachsenenbildung verwenden zu können, vor allem im Rahmen der Kirchenarbeit. Andererseits hatten sie jene Gruppe begleitet, aus denen auch die beiden Personen stammen, die ich im B’Treff interviewt habe.
Diese beiden Ausbildner haben nicht nur auf meine Fragen geantwortet, sie haben auch ihre Besorgnis ausgedrückt betreffend Äusserungen der Armutsbetroffenen und betreffend der Art, wie sie in der Öffentlichkeit über Armut sprechen. Aus diesen reichen Erfahrungen habe ich zwei Kapitel gemacht: das erste als Parallele zu den anderen Interviews über die Entwicklung des Dokumentes und ein weiteres Kapitel über den Gebrauch des Films.
Ich hatte grosse Mühe, über mein eigenes Engagement im Projekt zu schreiben. Ich hatte nur sehr wenig über meine Erfahrung geschrieben. Nur ganz am Anfang, wegen der Suche nach Finanzmitteln, war ich natürlich gezwungen, einen Projektbeschrieb zu erstellen.
In meiner Erfahrung und aufgrund meiner Lektüre zum Thema „Partnerschaft“, habe ich mir vor allem die folgende Frage gestellt: Hat meine Art zu arbeiten den betroffenen Personen genügend Platz gelassen? Fabrice Dhume sagt in seinem Buch, dass der verhandelte Konflikt einen der Motoren der Partnerschaft darstelle. Aber aufgrund meiner Erfahrung, gab es gar keinen Konflikt zu verhandeln oder zumindest nichts, was ich in diesem Sinne verstanden hätte. Als ich mich mit den Personen des B’Treffs über die Schlussfolgerungen meiner Arbeit austauschte, habe ich ihnen die Frage gestellt. Sie hatten den Eindruck dass dies eine gute Zusammenarbeit war. Jemand hat gesagt dass vielleicht dann, wenn man etwas länger zusammen arbeitet, Konflikte entstehen können, dies vor allem dann, wenn jeder sich genügend sicher fühlt und bereit ist, seine Gedanken offenzulegen.
Ein Gefühl, das mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig erscheint, ist das Vertrauen. Einer der Erwachsenenbildner hatte im Interview gesagt, dass er Vertrauen hatte in die Tatsache, dass ATD Vierte Welt die Äusserungen der Leute nicht auf die leichte Schulter nehme. Ich denke, dass die Treffen der «Gesprächsgruppe» das Vertrauen zwischen den Leuten aufgebaut haben. Dies kann vielleicht auch bedeuten, dass die Konflikte bereits in der Vergangenheit beigelegt worden sind.
… im Dienste eines klaren Zieles
Und jetzt, was kann ich aus dieser Erfahrung mitnehmen?
Video ist ein effizientes Werkzeug zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen. Aber das Werkzeug ganz allein dient zu nichts, es kann nur effizient sein, wenn ein menschliches Engagement es begleitet, wenn es mit klaren Zielvorstellungen verwendet wird, um Brücken zu schlagen.
Einige Punkte zeigen, dass die Herstellung eines Videos erlaubt, vorwärts zu kommen auf dem Weg zur gelebten Partnerschaft.
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Die Personen, die am Projekt teilnehmen, fühlen sich wertvoll und werden bestätigt in ihrer Überzeugung, dass sie etwas zu sagen haben.
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Jene, welche Ausbildungen über soziale Themen anbieten, sind aufgrund des unverfälschten Ausdrucks der Personen mit Armutserfahrungen sehr interessiert an den Ergebnissen.
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Gemäss ihnen erlaubt dieser Film die Armut aus dem Inneren heraus kennen zu lernen. Wenn man konkrete Personen sprechen höre, habe dies eine viel grössere emotionale Aussagekraft als abstrakte Beschreibungen. Die Armen würden so zu Menschen, mit denen wir uns identifizieren können.
Am Ende der Arbeit habe ich den Eindruck, dass ich noch nicht bis ans Ende dieses Projektes gegangen bin. Die Personen, die sich vor die Kamera gewagt haben, haben dies eindeutig deshalb gemacht, weil sie angehört und verstanden werden möchten. Es genügt nicht, ein schönes Werkzeug zu entwickeln, man muss es auch gebrauchen. Und damit eine Mitteilung der Kommunikation dient, braucht es vor allem auch Investitionen auf der Seite des „Empfängers“.
Zurzeit entwickelt die Schweiz eine Strategie zur Armutsbekämpfung. ATD Vierte Welt war als NGO in der Leitungsgruppe auf Bundesebene vertreten. Und das Ziel von ATD ist, die Personen, die in Armut leben, hier zu beteiligen. Vielleicht wird dies zu Möglichkeiten führen, um Werkzeuge wie diese DVD verwenden zu können, in der Überzeugung, wie der Titel sagt, dass die Aussagen darauf von «…nationaler Bedeutung» sind.
Eine zweite Perspektive ist, kleinere Filme zu drehen, die über das Internet verbreitet werden können, zum Beispiel, um Menschen in Armut dazu zu bewegen, selber Informationen zu erzeugen und nicht nur Abhängige der bestehenden Medienwelt zu sein, wo sie nur einen geringen Platz einnehmen. Diese Filme könnten kleine Projekte sein, in denen wir weiterhin Wege zu einer guten Partnerschaft erproben6.