Haiti in unseren Alltag einbinden

Eugen Brand

Traduction de Fabio Anchora, Carina Freitag, Sabine Haslebacher et Anna Roesti.

Traduit de :
«Haïti chérie !»

Citer cet article

Référence électronique

Eugen Brand, « Haiti in unseren Alltag einbinden  », Revue Quart Monde [En ligne], 205 | 2008/1 et 2, mis en ligne le 01 mars 2008, consulté le 18 avril 2024. URL : https://www.revue-quartmonde.org/8388

Haiti, 20. Januar 2010 : Schon die achte Nacht in Folge begibt sich das Team der Volontärinnen und Volontäre von ATD Vierte Welt auf einen öffentlichen Platz und verbringt mit rund hundert Leuten aus dem Quartier die Nacht.

Seit die Nachricht des Erdbebens sie erreicht hat, haben sich die Mitglieder der Bewegung ATD Vierte Welt auf der ganzen Welt vermehrt Zeit genommen, um innezuhalten und zusammenzufinden. Denn niemand will allein sein mit der Sorge um das ungewisse Schicksal der Familien, Freunde und Volontäre. Niemand will allein sein mit den Nachrichten all jener, die gesund und wohlbehalten sind. Niemand will allein sein mit den Nachrichten all jener, die ihre Trauer mit uns teilen wollen.

Unsere Freunde in Haiti berichten: Die Nacht ist die Zeit, in der man weinen, zusammen vor Angst zittern, beten oder singen kann. Die Nacht ist die Zeit, in der man für den nächsten Tag Kräfte sammelt, um die Suche nach jenen fortzusetzen, von denen man noch keine Nachricht hat. Die Nacht ist die Zeit, in der man zusammensteht, wenn man mit dem Tod konfrontiert wird.

Im Schutze der Nacht werden Kräfte gesammelt, um gemeinsam dem Mangel an Nahrung, Trinkwasser und medizinischer Versorgung zu trotzen. Und man versucht, sich ein Bild davon zu machen, wie man sich in dieser beklemmenden Notsituation eine Zukunft aufbauen kann. Das Team hält bereits jetzt an der Fortführung des Projekts Bébés Bienvenus fest, das sich der Kleinkinder von 0 bis 3 Jahren annimmt – denn es sind die Kleinsten, die am verletzlichsten sind.

Im Schutze der Nacht werden Kräfte gesammelt, um über die Notlage nachzudenken : Was tun wir und wohin gehen wir ? Dort, wo die Familien leben, rutscht die Erde weiter ab, sind die Häuser grösstenteils zerstört – doch genau dort zeigen sich echte Nachbarschaftshilfe und der unbändige Wille zusammenzuleben.

„Wir hoffen, dass dies für uns alle nicht nur eine Tragödie ist, sondern auch eine Prüfung, die dazu führt, dass wir einander näherkommen. Dieses Ereignis muss ein Stück Weltgeschichte werden“, betont Jaqueline Plaisir, hauptamtliche Volontärin von ATD Vierte Welt Haiti. Und wir ?

Wie kann man uns helfen zusammenzustehen, damit wir nicht in dieser Flut von Eindrücken untergehen? Diese Flut von Bildern und Nachrichten zeigt eine absolut lebenswichtige internationale Solidarität. Doch in diesem Meer aus Leid, verschüttetem Leben und Zerstörung bleibt sie unbemerkt und wirkungslos, ausser sie vereint sich mit der spürbaren Solidarität, die durch den Mut, die Intelligenz und den Glauben der Menschen aus dem tiefsten Inneren dieses Landes, aus seiner Geschichte und seiner Seele emporsteigt.

In den Quartieren sind die Familien im Moment noch auf sich gestellt und sie wissen, sie müssen sich selbst helfen, da ihnen zurzeit niemand zu Hilfe kommt. Der haitianische Schriftsteller Dany Laferrière sagte in einem Interview : „Was diese Stadt nach dem Erdbeben gerettet hat, ist die Kraft der Ärmsten. Dank ihnen hat Port-au-Prince überlebt.“

Wie können wir einander helfen, im Sinne der Vision von Pater Joseph Wresinski zu handeln? Jener Vision, die er 1968 im Artikel „Gewalt an den Armen“ (La violence faite aux pauvres) niederschrieb : „Wenn der im Elend Lebende Fragen aufwirft, tut er es nicht, weil er unseren Fortschritt verlangsamen will. Im Gegenteil, er nötigt uns, unseren Horizont zu erweitern, unendlich weiter zu schauen und ehrgeiziger zu sein, als wir es sind.“ Haiti bietet nun die Möglichkeit, dass wir die Dringlichkeit dieser Vision in all unseren Einsatzgebieten erkennen können. Wie können wir weltweit als Bewegung diese Chance nutzen ?

Diese Frage verpflichtet uns, hierfür in unserem Alltag, der geprägt ist von Aktivitäten, Einsätzen und Öffentlichkeitsarbeit, einen Platz zu schaffen. Binden wir Haiti in unseren Alltag ein, zeigen wir, dass wir überall vor derselben Herausforderung stehen. Wir haben es nicht mit einer Hierarchie verschiedener Notfälle oder Dringlichkeiten zu tun, wir sind vielmehr mit einem Elend konfrontiert, das aus „Ungerechtigkeit und Gewalt aller Art“ besteht.

Leid für Haiti bedeutet Leid für die Welt.

Fortschritt in Haiti bedeutet Fortschritt in der Welt.

Wir sind eine einzige Menschheit in Bewegung.

Eugen Brand

Articles du même auteur

CC BY-NC-ND